Aufklärung über ein Tabu
Eine Ausstellung zu den NS-Euthanasie-Verbrechen
Wie entscheidet eine Gesellschaft, wer leben darf und wer sterben muss? Und welche Spuren hinterlässt diese Entscheidung in der Geschichte?
Seit über 80 Jahren sind die Opfer der NS-Euthanasie nun verstorben. Mindestens genauso lang wurde ihrem Schicksal und ihrer Lebensgeschichte kein Gehör und keine Stimme verliehen. Ausgeschlossen aus der Gesellschaft, verstoßen und verstorben.
Am 6. Januar präsentierte uns Herr Sandau eine Ausstellung mit dem Titel ,,Finding Ivy: A life worthy of life”, welche in Zusammenarbeit mit der University of Leeds entstanden ist. Uns als Geschichtsleistungskurs wurde die große Ehre zuteil, diese Ausstellung am Mariano-Josephinum zu eröffnen. Das zentrale Thema der Ausstellung sind die Opfer der ,,Aktion T4”, welche aufgrund psychischer und physischer Einschränkungen ein ,,unwertes Leben” leben würden und deshalb ermordet werden sollten. Die zweisprachige Ausstellung rekonstruiert die vielen spannenden und unterschiedlichen Lebensgeschichten der Opfer aber auch die schreckliche Geschichte des Vernichtungsprogrammes sowie deren Folgen. Darüber hinaus regt die Ausstellung zum Paralleldenken zwischen der heutigen Zeit und der Vergangenheit an- mit besonderem Fokus auf die Bedeutung von Menschen mit Beeinträchtigungen für unsere Gesellschaft.
Eingangs zur Ausstellungseröffnung erzählte Herr Sandau von seiner Motivation, diese Ausstellung nach Deutschland zu bringen. Er führte dies zurück auf den Geschichtsunterricht während seiner Schulzeit, welcher ihn zur eigenen Ahnenforschung angeregt habe. Die von ihm als ,,schweigend” bezeichnete Eltern- und Großelterngeneration habe ihm dieses Vorhaben zu Beginn erschwert, zugleich aber auch für die tiefere, intensivere Auseinandersetzung mit den Verbrechen in den Konzentrationslagern gesorgt. Insbesondere uns jungen Menschen möchte Herr Sandau nun diese Verbrechen nahebringen und ihre Bedeutung sowohl für unsere Generation als auch für Folgegenerationen verdeutlichen. In diesem Zusammenhang zitierte Herr Sandau einen eigenen Freund und mehrfachen KZ-Überlebenden: „Unsere Generation ist nicht verantwortlich für die damaligen Verbrechen, aber unsere Generation ist verantwortlich dafür, dass sich diese nicht wiederholen!“
Im weiteren Verlauf des Gespräches ging Herr Sandau auf die historische Seite der Euthanasie ein und erklärte zusätzlich, mit welchen Problemen er bei der Sammlung von Informationen konfrontiert wurde. Aus den Kriegshandlungen des Ersten Weltkriegs, insbesondere von dem ,,Leben” an der Westfront, kehrten viele Soldaten mit schweren physischen und psychischen Beeinträchtigungen heim, die sogenannten ,,Kriegskrüppel”. Auch diese Soldaten, die für ihre Heimat in den Krieg gezogen sind, lebten fortan in den Augen der Nationalsozialisten ein ,,unwertes” Leben. Jeder Bürger mit Beeinträchtigung kostete den Staat bares Geld, was in der Folge instrumentalisiert wurde, um für die Euthanasie und gegen Menschen mit Beeinträchtigung zu hetzen. Nach der Machtergreifung Hitlers war eins der ersten eingeführten Gesetze der sogenannte ,,Führerbefehl zur Ermächtigung für Volksgesundheit”, nach dem sich Ärzte fortan zu richten hatten. Laut diesem Befehl sollte Kranken der ,,Gnadentod” gewährt werden. Auf die ,,Aktion T4” folgten weiter gezielte Vernichtungsprogramme wie zum Beispiel die ,,Aktion 14f13” zur Ermordung ,,nicht arbeitsfähiger”, ,,kranker” und ,,alter” Menschen. Im Nachhinein, während der Aufarbeitung der Lebensgeschichten sowie bei der Ergründung der Ermordung einzelner Menschen, stellten sich auch Herrn Sandau einige Schwierigkeiten in den Weg. Zum Beispiel sind Spuren der NS-Verbrecher verwischt worden, viele Aufzeichnungen vernichtet oder aufgrund früher Selektion gar nicht erst entstanden. Gerade bei der Verarbeitung von personenbezogenen Daten treten viele Probleme auf, die Bekanntheit von Euthanasieopfern beeinträchtigen.
Abschließend warf das Gespräch mit Herrn Sandau auch Fragen zur Bedeutung der Euthanasie der NS-Verbrechen für unsere Gesellschaft heutzutage auf. Wer entscheidet über ,,wertes” und ,,unwertes” Leben, gibt es überhaupt so etwas wie ,,unwertes Leben”? Wieso wurde das menschliche Leben zu einem wirtschaftlichen Gut und welche Rolle spielt dabei die Instrumentalisierung der bürgerlichen Ängste?
Laut Herrn Sandau wurden auch wir zu gläsernen Menschen in Punkto Gesundheit durch die Einführung der Gesundheitsämter sowie der Verarbeitung der Gesundheitsdaten durch die Krankenkassen. Weitere Parallelen zieht Herr Sandau zum einen aus der Gefahr des schnellen Aufkommens, radikaler Parteien und der Übernahme der Macht, aber auch in der beispielhaft erwähnten Forderung eines Politikers nach einem Register für psychisch Kranke.
Wir als Leistungskurs bedanken uns in erster Linie bei Herrn Sandau für seine Zeit, das aufschlussreiche Gespräch und die Einblicke in seine Arbeit.
Die Ausstellung kann im Rahmen des Unterrichts bis Ende Februar in der Choralei besucht werden.
Der eA-Kurs Geschichte Q2 (Vespermann)