Latinitas in motu 2019/20

Latinitas in motu: „Der Phönix fliegt!“

Das Drehbuch stammt aus dem Jahre 1965 „Der Flug des Phönix“, damals verfilmt mit James Stewart und Hardy Krüger. Die Story geht so: Ein ziemlich großes Flugzeug muss in der Sahara notlanden. Ein Dutzend Männer in der Wüste. Keiner weiß, wo es langgeht, keiner weiß, wie man den kaputten Flieger wieder in die Luft bekommt. Alle krakeelen durcheinander. Jeder gegen jeden im Schatten des Wracks. Nirgendwo etwas zu essen und zu trinken. Überall Wüste, nirgendwo Wasser.

Dann hat einer eine Idee. Lasst den alten Vogel doch liegen. Er war mal groß, er hatte zwei Motoren. Aber was helfen uns zwei Motoren, wenn keiner geht? Lasst uns lieber aus dem, was noch da ist, etwas Neues machen. Ein Flugzeug mit einem Motor. Das wäre dann zwar klein, aber es könnte fliegen. Der Plan gelingt.

In einem dramatischen Finale springt der Motor an. Der Phönix fliegt. Was hat das alles mit Latein zu tun? Wenig! Und doch: viel! Denn „Der Flug des Phönix“ spiegelt im Groben den Weg des Lateinischen wider. Erst war die lateinische Sprache alles, die Sprache des Imperium Romanum, die Sprache des römischen Weltreiches. Dann, nach dem Untergang des römischen Weltreiches, wurde sie zur Sprache der Denker (in Maßen auch der Dichter) und spielte auch in den Schulen eine dominierende Rolle. Latein war mal groß, dann stürzte es ab. Und nun „fliegt“ es wieder. Und ist erstaunlich vital. Denn im Lateinischen stecken Kräfte der Nachdenklichkeit, der Selbstbesinnung, der intellektuellen Kontrolle, die dem Kalkül des nur zweckrationalen Nutzens entgegenstehen. Dies alles erschließt sich am besten bei der Beschäftigung mit dem authentischen Material der Originaltexte. Deshalb besprechen wir auch gemeinsam am Ende eines jeden Schuljahres, mit welchem Text wir uns im folgenden Schuljahr beschäftigen wollen.

Zu den Veränderungen, die uns Corona auferlegte, gehörte auch die Reduzierung der Veranstaltungen. Plötzlich waren „kontaktlos“ und „distanziert“ oberste Maximen in der Schule. Während der Corona-Krise konnten wir sogar mit Video-Konferenzen Erfahrungen sammeln, und es funktionierte sogar erstaunlich gut!

Auch heute noch gibt es Lateinfans, die mit einer toten Sprache etwas anfangen können. Die meisten Lateinfans sind in Gesprächskreisen organisiert. So auch wir. Wir treffen uns dienstags, alle zwei Wochen. Die lateinische Sprache ist insofern „tot“, als sie nicht die natürliche Sprache einer lebenden Nation ist. Doch tote Sprachen leben länger. Klar, sie können ja nicht sterben. Wie ein riesengroßes Flugzeug liegt die Sprache da. Es wird einem deutlich, dass die Geschichte weitergeht und dass die Welt, deren Sprache man gewohnt ist, nur vorläufige Geltung hat. Aber es geht weiter!

Da hat man sich in der Schule jahrelang mit Latein gequält, dann macht man es freiwillig weiter. Ist das nicht absurd? Reicht es nicht? Nein! Denn man kann aus den toten Resten etwas Neues machen. Und wir haben etwas daraus gemacht! Das „in motu“ (in Bewegung) kam in diesem Schuljahr etwas zu kurz; aber beim gemeinsamen Besuch der Ausstellung Zeitenwende 1400 im Dommuseum – excellent und exklusiv geführt von unserem Latinitas-Mitglied und ehemaligen Direktor des Dommuseums Herrn Dr. Brandt – war es doch „da“. Überdies gab es vor den Ferien stets einen Ausflug in ein Lokal in der Nähe, wo das soeben Gelernte noch vertieft werden konnte.

Außerdem: Wir haben die Metamorphosen (lateinischer Originaltitel Metamorphoseon libri: „Bücher der Verwandlungen“) des römischen Dichters Ovid, geschrieben vermutlich ab dem Jahr 1 oder 3 n. Chr. bis um 8 n. Chr., gelesen – und „Verwandlungen“ haben ja etwas mit Bewegung zu tun.

Die Metamorphosen sind Fundgrube der griechischen Mythologie, aber sie sind mehr als nur ein mythologisches Handbuch: Die psychologisch vielschichtigen Mythen sind Projektionsfläche für existentielle Grunderfahrungen des Menschen. Sie bestehen aus 15 Büchern von je etwa 700 bis 900 Versen – und da sieht man schon, dass es der Zu- und Vorbereitung bedarf, denn alles zu lesen hätte uns maßlos überfordert. Aber wir hatten zwei AG-Leiter, Frau Czimmek und Herrn Hosemann, die das für uns erledigten und uns mit einer Auswahl (gespickt mit Vokabelhilfen und Bildern) versorgten. Zahllose künstlerische Sujets stammen aus den Metamorphosen des Ovid. Spannend wäre sicherlich noch eine Behandlung des Phönix gewesen.

Der Phönix ist ein mythischer Vogel, der am Ende seines Lebenszyklus verbrennt oder stirbt, um aus dem verwesenden Leib oder aus seiner Asche wieder neu zu erstehen. Leider taucht der Phönix bei Ovid erst im letzten Buch auf – und das nur am Rande. Wir haben uns nicht mit allen 250 Sagen beschäftigen können, sondern mit folgenden Themen:
• dem Proömium (Einleitung: Entstehung der Welt aus dem Chaos und einer großen Flut sowie die vier Zeitalter),
• Narcissus und Echo,
• mit Lykaon,
• Ascalaphus, Clytie,
• Apollo und Daphne,
• Arachne,
• Cyparissus,
• Daedalus, Ikarus und Perdix,
• Philemon und Baucis,
• Pythagoras.

Ovid wählt häufig Verwandlungen, in denen ein Mensch oder ein niederer Gott in eine Pflanze, ein Tier oder ein Sternbild verwandelt wird. Zusammengehalten wird die ungeheure Stoffmasse durch das Leitmotiv der Verwandlung.

Ovid verknüpft die Verwandlungen in der Regel durch motivische Assoziationen, indem Art und Anlass jeder Metamorphose, die beteiligten Personen, die Umstände und der Schauplatz des Geschehens ihm das Stichwort zum Weiterspinnen des Handlungsfadens geben. So schafft er weitreichende Spannungsbögen, vielfältige Symmetrien und Kontraste, Retardationen, Peripetien, Pointen, Doppelungen, Spiegelungen.

Wir haben gelernt: Hinter den vielen kleinen Verwandlungen steckt die immerwährende Verwandlung, die bei der Entstehung der Welt beginnt und in der Zeit des Augustus endet. So bieten sie reichlich Anknüpfungspunkte für die Interpretation und geben oftmals Anstoß zur Reflexion.

Am Ende wurde – natürlich in Auszügen – das 15. Buch gelesen, insbesondere die Lehrrede des Pythagoras. Zentral waren dabei seine These von der Seelenwanderung und die daraus abgeleitete Empfehlung zu vegetarischer Ernährung sowie das Weltprinzip ewiger Wandlung sowie zum Abschluss der Epilog, in dem Ovid seine eigene Unsterblichkeit darstellt mit der Begründung, dass weder Iupiter noch Feuer noch Schwert noch die Zeit sein Werk zerstören könnten. Hier wird noch einmal eine Klammer zum Proömium gebildet und das Selbstverständnis des Dichters präsentiert.

Weiter geht es im nächsten Schuljahr mit der Schrift „de medicina“ des Celsus (1. Jahrhundert nach Christus). Wir werden uns mit Textabschnitten beschäftigen, in denen es um allgemeine Prinzipien in der Medizin geht.

Zwar schreiben wir nicht 1965, der Kreis existiert erst seit vier Jahren; wie ein riesengroßes Flugzeug liegt die Sprache da. Aber dennoch kann festgestellt werden: Der Phönix fliegt.

Georg Liebke

Vertiefende Erkenntnisse: Die „Latinitas“, die Latein-AG für Eltern, Ehemalige und alle am Lateinischen Interessierten, traf sich zum Schuljahresabschluss im Biergarten der Brauhausmanufaktur.