Latinitas in motu 2020/21

Latinitas in motu: Die gesunde Mischung macht's

Im Laufe ihrer Geschichte kamen die Griechen allmählich zu der Überzeugung, dass Krankheit und Gesundheit doch nicht von den Göttern kommen, aber woher dann? Antwort auf diese und andere Fragen fanden wir, die Latinitas in motu, – außerhalb der üblichen Schullektüre – in dem achtbändigen Werk des Aulus Cornelius Celsus „de medicina“ (Über die Medizin). Wir lasen einen großen Teil des Proömiums (Vorwort), an dessen Anfang kurz die Geschichte der Medizin behandelt wird.

Celsus berichtet dort, dass die Griechen, nachdem die Götter als Verursacher ausgeschieden waren, die Ursache von Krankheiten in der unausgeglichenen Lebensweise der Menschen sahen, z.B. wenn bei viel geistiger Betätigung der Körper vernachlässigt wird.

Den Gedanken der Ausgeglichenheit und des richtigen Maßes griff der berühmte Arzt Hippokrates (ca. 460 – 370) auf. Angelehnt an die naturphilosophische Vorstellung von Wasser – Feuer, Luft – Erde als den vier Elementen der Natur entwickelte er die Lehre von den vier Körpersäften des Menschen: Blut, Schleim, helle Galle, schwarze Galle. Wenn diese Körpersäfte und die ihnen zugeordneten Zustände wie warm - kalt, feucht – trocken in einem ausgeglichenen Verhältnis stehen, ist der Mensch gesund, fehlt das Gleichgewicht, ist er krank. Diese Vorstellung entspricht einem Grundsatz frühen griechischen Denkens, der am Apollontempel in Delphi in Marmor gemeißelt ist: Nichts allzu sehr! Nichts im Übermaß!

Für die Umsetzung dieser Theorie in die Praxis entwickelte sich nach Chirurgie und Pharmazie / Heilmitteltherapie als dritte medizinische Disziplin die Diätetik, die, entsprechend der Bedeutung des griechischen Grundwortes für Lebensweise, nicht nur für die Ernährung, sondern auch für die körperliche Betätigung und den Gefühlshaushalt zuständig war. Konkrete Empfehlungen für den Erhalt oder die Wiederherstellung der Gesundheit bestanden z.B. darin, abwechselnd auf dem Lande und in der Stadt zu leben, Sport in Maßen zu betreiben, Essen und Geschäfte zu trennen. Die gesunde Mischung war eben wichtig. Für seine Empfehlungen sollte ein Arzt neben seinem Fach auch die persönlichen Lebensumstände seines Patienten gut kennen.

Aus heutiger Sicht sind diese Vorstellungen von Krankheit und ihrer Therapie zu wenig spezifisch, zu allgemein. Jedoch bekommt die über 2.000 Jahre alte Theorie im Hinblick auf ihren ganzheitlichen Ansatz, der nicht nur die einzelne Krankheit, sondern den ganzen Menschen im Blick hat, eine interessante Aktualität.

Medizinische Behandlung wurde auch, das haben wir allerdings nicht bei Celsus gelesen, stationär angeboten, und zwar in ca. 300 rund um das Mittelmeer gelegenen Asklepieien. Ein Asklepieion ist vergleichbar mit einer Heilstätte bzw. Kuranlage. Solche Einrichtungen sind landschaftlich meistens sehr reizvoll gelegen und können gewaltige Ausmaße haben. Neben dem zentralen, dem Heilgott Asklepios geweihten Tempel gab es viele Orte zur Bewegung wie ein Stadion, Bäder, Gymnastik- und Massageräume, Räume zum Schlafen und Entspannen, die viel Licht und Luft hereinließen, geeignete Kost und gesundes Wasser und für das seelische Wohlbefinden die reizvolle Lage mit angenehmem Klima und auch ein Theater. Das berühmte Theater von Epidauros war übrigens Bestandteil eines solchen Asklepieions.

Celsus erwähnt neben dem auch heute noch bekannten Arzt Hippokrates die Namen weiterer zu seiner Zeit berühmter Ärzte, die mehreren miteinander konkurrierenden Schulen angehörten. Ausführlich berichtet Celsus von zwei heftig um den Vorrang in der Medizin kämpfenden methodischen Ausrichtungen: die der Empiriker und die der Theoretiker. Die Empiriker stützten sich bei der Behandlung von Krankheiten lediglich auf ihre Erfahrung, wohingegen für die Theoretiker die Berücksichtigung einer übergeordneten Theorie, z.B. der Säftelehre des Hippokrates, unverzichtbar war.

Auf Betreiben der Theoretiker sollen zur Erweiterung der damals noch beschränkten anatomischen Kenntnisse im ägyptischen Alexandria (Ende des 3. Jahrh. v.Chr.) zum Nutzen und Wohl der gesamten Menschheit – so die Begründung bei Celsus – auch Vivisektionen (Obduktionen am lebendigen Körper) durchgeführt worden sein. Celsus selbst verurteilt Vivisektionen, Leichenobduktionen hält er für sinnvoll.

Abschließend beschäftigten wir uns mit dem „Eid des Hippokrates“. Die in ihm angesprochenen ethischen Grundfragen sind heute noch aktuell, weshalb auch gelegentlich Bezug auf ihn genommen wird, nicht nur im Bereich der Medizin. Die Entstehungszeit des griechischen Originals ist äußerst umstritten, unsere lateinische Version geht auf Ianus Cornarius (1500 – 1588) zurück. Der Eid besteht wie vergleichbare Eide aus 1. der Anrufung der Götter, hier vor allem des Apollon und seines Sohnes, des Heilgottes Asklepios / Aesculapius, 2. dem Thema, hier dem Lehrvertrag mit den Pflichten des Lehrlings gegenüber seinem Meister und dem Pflichtenkodex mit den Pflichten des werdenden Arztes gegenüber seinen Patienten und ihrer Umgebung und 3. der Verwünschung, falls der Eid nicht eingehalten wird.

Es ist allerdings festzustellen, dass in der neueren Forschung und der Diskussion unter Fachleuten zentrale Passagen, auf die in aktuellen Auseinandersetzungen über ethische Fragen gern Bezug genommen wird, völlig kontrovers aufgefasst und übersetzt werden. Das gilt für die Aussagen des Eides zu Beihilfe zum Selbstmord / Mord, Abtreibung und Blasenoperation bzw. Chirurgie. Es werden auch Anhaltspunkte für die Entstehung des Eides erst in frühchristlicher Zeit mit einer entsprechenden Geisteshaltung gesehen.

Dennoch bleibt genügend Substanz, die Bestand hat und Beachtung verdient:
- die Maxime ([Der Arzt muss:] Nützen, oder [wenigstens] nicht schaden!),
- die Gleichbehandlung mit gleichem Schutz für Frauen und Männer, Sklaven und Freie,
- das im Eid zum ersten Mal formulierte ärztliche Schweigegebot.

Ein dem hippokratischen Eid in etwa entsprechender moderner Text ist die vom Weltärztebund 1948 verabschiedete Deklaration von Genf, die 2017 zum letzten Mal überarbeitet worden ist.

Durch die verschlungenen Pfade langer indirekter Reden mit unbekannten Vokabeln und insbesondere durch etliche pandemiebedingt abgehaltene Videokonferenzen haben uns in bewährter Weise Frau Czimmek und Herr Hosemann geführt.

Im nächsten Schuljahr erwartet uns als Autor Plinius (Gaius Plinius Caecilius Secundus, der Jüngere, 61 bis etwa 113). Er lebte in einer äußerst bewegten, aufregenden, interessanten Zeit und hat uns zahlreiche Briefe mit abwechslungsreichen Inhalten und ansprechenden Themen hinterlassen.

Martin Beelte