Latinitas in motu 2022/23

Latinitas in motu im Schuljahr auf den Spuren des Dichters Martial

Schon am Ende der Sommerferien bereiteten wir uns auf das kommende Schuljahr vor, indem wir, getreu unserem Motto, in Bewegung zu sein, die Pompeji-Ausstellung in Kalkriese besuchten. Die zahlreichen exquisiten Exponate ließen uns – nach dem Vorbild des römischen Gottes Ianus – an die vergangene Lektüre von Plinius zurückdenken und vorausschauen auf Martial, den „römischen“ Schriftsteller aus Spanien, dessen Lebenslauf wir mithilfe seiner Epigramme in diesem Schuljahr nachzeichnen wollten.

Im Januar unternahmen wir einen weiteren Ausflug zur Islam-Ausstellung im Dommuseum, denn bekanntlich lohnt es sich immer, über den Tellerrand hinauszusehen und zu erfahren, wie sich antikes Leben weiterentwickelt hat.

Als Nobody aus der Provinz Hispania kam Marcus Valerius Martialis im Alter von 24 Jahren im Jahr 64 n. Chr. in Rom an. Er erlebte die späte neronische, die flavische und die frühe trajanische Zeit und traf auf eine Gesellschaft von Patronatsherren und Klienten, Kaisern und ihrem Hofstaat, Teilnehmern an feinen Gesellschaften und Schmarotzern, vermögenden Gönnern und Geizkragen. Zunächst konnte er sich an seinem Mäzen Seneca orientieren, musste aber nach dessen von Nero erzwungenem Selbstmord selbst versuchen in der römischen Gesellschaft Fuß zu fassen, indem er sich reiche Gönner suchte, die ihn finanziell unterstützten, für die er aber auch tätig sein musste.

Durch kurze, brillant geschliffene Epigramme mit meist nur wenigen Versen machte sich Martial bald einen Namen. Seine Gedichte würzte er mit spanischem Pfeffer und attischem Salz, manchmal auch mit einem Tröpfchen Honig, immer nach seinem Motto (10,33) „Die Personen schonen und nur die Fehler nennen.“ Um all dies selbst kennenzulernen und auch beurteilen zu können, traten wir ein in die Welt der römischen Epigramme und beschäftigten uns mit Aufbau und Versmaß der Gedichte.

Wie in einer martialischen Autorenlesung folgten wir dem Dichter bei der Darstellung künstlicher Haarpracht, kosmetischen Korrekturen von Zähnen und fehlenden bzw. künstlichen Haaren feiner und auch weniger feiner Damen, missglückten Heilungsversuchen verschiedener Ärzte, Heiratsschwindlern usw. Manche Pointen waren gar nicht so einfach zu erkennen und nachzuvollziehen, und manchmal musste man jedes Wort auf die Goldwaage legen, aber genau das beabsichtigte der Dichter.

So war es sehr verständlich, wenn der Autor in einem stolzen Vierzeiler von sich und seinen Epigrammen sagte: „Überall lobt und liebt und singt mein Rom meine Büchlein; jedermann hat mich in der Tasche, jedermann mich in der Hand. Sieh, der wird rot, der bleich, der erstarrt, der gähnt, der verwünscht mich. Recht so: Jetzt hab ich selbst Freude an meinem Gedicht!“ (6,60)

Mit Martial lernten wir auch die Stadt Rom näher kennen. Wir feierten unter anderem mit dem Dichter die Einweihung des Kolosseums 80 n. Chr., als er in einer Art von Reportage-Epigrammen die neunzigtägige Eröffnungsfeier des Amphitheatrum Flavium verherrlichte und damit die Gunst des Kaiserhauses gewann. Kaiser Titus revanchierte sich mit Geldgeschenken und Ehrenrechten. Der arme Poet Martial wurde sogar in den Ritterstand erhoben.

Dennoch war der Dichter Zeit seines Lebens auf Gönner und Patrone angewiesen. Allerdings wurde ihm der Klientendienst von Jahr zu Jahr mehr zur Last. Jeden Morgen um 6:00 Uhr in der Toga vor dem Haus des Patronus zu stehen, anstehende Aufträge entgegenzunehmen, den Herrn aufs Forum zu begleiten, eventuell am Abendessen teilnehmen zu müssen und dann noch mit neuen Gedichten bei den Gästen zu renommieren, konnte ziemlich nervtötend und auch gesundheitsschädlich sein. Immer wieder klagt Martial uns in dichterischer Form sein Leid.

Ein weiteres Problem machte ihm zu schaffen, wie er uns in mehreren Epigrammen erklärt. Die Antike kannte zwar Verlagshäuser und Buchhandlungen, jedoch keine Urheberrechte und Autorenhonorare. Geistiges Eigentum war, sobald es die Hand des Dichters verlassen hatte, Gemeingut, d.h. der Autor ging leer aus. Martial war also gezwungen, um seinen Bekanntheitsgrad zu erhöhen, bei kulturellen Veranstaltungen zu lesen oder bei entsprechenden Partys als Überraschungsgast aufzutreten. Dass es dabei immer wieder zu Plagiaten römischer Mitdichterlinge kam, machte ihm ganz besonders zu schaffen. In einem Epigramm führt uns der Dichter den geradezu schwindelerregenden Neid seiner Kollegen vor Augen: „Platzt da doch irgendeiner vor Neid, mein liebster Freund Julius, weil ganz Rom mich jetzt liest: Platzt da doch einer vor Neid. Platzt da doch einer vor Neid, weil überall hier in der Menge man mit dem Finger auf mich zeigt: Platzt da doch einer vor Neid. …“ (9,97)

Der Adressat dieses Gedichts, Martials Namensvetter Julius Martialis, war der vertrauteste Freund des Dichters. An ihn hat Martial seine persönlichsten Gedichte gerichtet. Dazu gehört der von außen nach innen fortschreitende Glückskatalog (10,47): „Was uns das Menschenleben glücklicher macht, liebster Freund Martial, sind diese Dinge: ein Vermögen, ererbt, nicht schwer erworben; ein Stück Land und ein Herd, der allzeit warm ist; kein Prozess, kaum die Toga, ruhige Denkart; Leibeskräfte mit Maß, ein gesunder Körper; wache Offenheit, gleichgesinnte Freunde; … dass du, was du bist, sein willst und nichts lieber, weder fürchtest das Ende noch es wünschest.“

Das andere dieser Freundesgedichte (5,20) spricht vom flüchtigen Glück der Muße, des tempus otiosum, des wahren Lebens, der vera vita, die man zusammen mit einem Freund genießen sollte.

Obwohl es Martial gelungen war, ein Häuschen in Rom zu erwerben und ihm ein kleines Landgut östlich von Rom übereignet worden war, legte sich mit der Zeit ein Schatten über sein Leben. Der ständige Klientendienst, die Liebedienerei gegenüber allen Vermögenden, die Lobhudeleien zugunsten des Kaisers machten ihm schwer zu schaffen und zermürbten ihn. Als der letzte der flavischen Kaiser, Domitian, der sich als „Herr und Gott“ ansprechen ließ, einem Attentat zum Opfer fiel und der Senat sogar die damnatio memoriae über ihn verhängte, d.h. jegliche Erinnerung an ihn löschen ließ, war Martial kompromittiert, da er den Kaiser mehrmals schmeichelnd umworben hatte. Er konnte in der Hauptstadt nicht mehr bleiben. Als lassus (erschöpft) beschrieb er diesen Zustand (10,74). Bald nach dem Regierungsantritt Trajans 98 n. Chr. zog sich der Dichter in seine spanische Heimat zurück. Eine vermögende Verehrerin hatte ihm dort einen Alterssitz auf dem Lande geschenkt.

Drei Jahre lang hörte man in Rom nichts mehr von Martial. Dann schickte er wieder ein Buch in die Hauptstadt. Dort stellte er in einem Gedicht (12,18) sein altes Leben in Rom und sein neues in Spanien einander gegenüber und kam zu der Erkenntnis: Rom war meine große Inspiration, die mir jetzt fehlt.

Der Dichter Plinius, der Martial das Reisegeld nach Spanien geschenkt hatte, schrieb in einem Brief (3,21): „Ich höre, dass Valerius Martialis gestorben ist (ca. 103 n. Chr.), und das liegt mir auf der Seele. Er war ein hochbegabter, scharfsinniger, leidenschaftlicher Mensch und einer, der in seinem Schreiben ein gleich hohes Maß attisches Salz und bittere Galle zeigte, und dabei nicht weniger Lauterkeit.“

Im nächsten Schuljahr wird Lucius Annaeus Seneca, ein Zeitgenosse Martials aus Spanien, sein erster Förderer und wahrscheinlich auch Lehrer auf dem Programm stehen. Wir wollen uns in erster Linie mit Senecas philosophischem Werk beschäftigen.

Roswitha Czimmek

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